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20. Januar 2000


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da biar ren di tzimbar zung

Hier sprechen wir die zimbrische Sprache.
Eine deutsche Sprachinsel in Italien meldet sich zu Wort

Von Eckehard Czucka


Zimbrisch? Selbst ein neueres, groß angelegtes Lexikon zur Sprachwissen-
schaft kennt dieses Stichwort nicht. Auch der Rat “Was man unter Z ver-
misst, suche man unter C oder K” hilft in diesem Falle nicht weiter. Über die Sprache der Zimbern, eben das Zimbrische, ist offenbar so leicht nicht eine verlässliche Auskunft zu bekommen. Dabei gibt es seit langem sprach-
wissenschaftliche und volkskundliche Forschungsarbeiten zu dieser Sprache und ihren Sprechern. Zwischen 1833 und 1858 reiste der deutsche Sprachwis-
senschaftler Johann Andreas Schmeller zu den zimbrischen Sprachinseln, die heute zur Provinz Veneto gehören, ausgenommen Lusérn, das im Trentino liegt. Schmellers sprachwissenschaftliche Untersuchungen ergaben, dass das Zimbrische ein mittelhochdeutscher Dialekt mit bairisch-tirolerischer Fär-
bung ist, der seit etwa 1000 n. Chr. in dem Gebiet nördlich von Verona ge-
sprochen wurde und wird. Als Ertrag seiner Reisen gab Schmeller, der auch Verfasser des “Bayerischen Wörterbuchs” ist, 1838 ein “Cimbrisches Wör-
terbuch” heraus. Die Bezeichnung “Zimbrisch” geht auf italienische Huma-
nistenschulen des 14. Jahrhunderts zurück, die die deutschen Sprachinseln fälschlicherweise zu Relikten der Völkerwanderung erklärten.

Erstmals meldet sich jetzt in einem schmalen, höchst informativen Bändchen die kleine italienische Gemeinde Luserna, auf Zimbrisch: Lusérn, zu Wort und stellt sich - mit einigem Recht - als der letzte Ort vor, in dem das Zim-
brische “sich bis heute ursprünglich und rein behaupten konnte.” Die Publi-
kation ist für (potenzielle) Besucher gedacht, denen in kurzen historischen und kulturgeschichtlichen Abrissen eine erste, fundierte Orientierung ge-
boten wird; aber auch nützliche Informationen zu Anreise, Unterkunft und Urlaubsmöglichkeiten fehlen in dem reich bebilderten Bändchen nicht.

Lusérn/Luserna liegt auf der Hochebene von Asiago, südöstlich von Trient, und ist entweder von dort oder von Rovereto aus auf gut ausgebauten Stra-
ßen ohne Schwierigkeiten zu erreichen. So leicht zugänglich wie heute war das Dorf nicht immer, und das ist vielleicht der Hauptgrund, warum in Lu-
sérn als einzigem Ort von ehemals 20 Gemeinden heute noch Zimbrisch gesprochen wird. Ursprünglich bestand das zimbrische Sprachgebiet aus dem Bereich der sog. ‘Dreizehn Gemeinden (von Verona)’ (Tredeci Comuni vero-
nese), unterhalb der Monti Lessini nordwestlich von Verona, und den ‘Sieben Gemeinden (von Vicenza)’ (Sette Comuni vicentini), die alle wie Lusérn auf der Hochebene von Asiago liegen. Die Ansiedlung wurde von den (damals deutschsprechenden) Bischöfen in Trient durch die Vergabe von Lehen ge-
fördert.

Der Autor behandelt wesentliche Stationen der geschichtlichen Entwicklung und gibt so einen Überblick, der von den frühgeschichtlichen Funden bis zu den neuesten Entwicklungen der italienischen und europäischen Politik reicht. Ein besonderes Gewicht gibt er in seinem Abriss den Ereignissen des 1. Weltkriegs, in den der Ort Lusérn folgenreich einbezogen war. Denn das Dorf lag direkt an der Grenze Österreich-Ungarns zum Königreich Italien, und in unmittelbarer Nähe zum Ort waren zwischen 1908 und 1912 mehrere Festungsbauwerke (die Forts von Lusérn und Verle sowie ein Beobach-
tungsfort auf der Cima Vezzena) errichtet worden. Als am 24. Mai 1915 Italien nach seinem Ausscheren aus dem Dreibund Deutschland und Österreich den Krieg erklärte, wurde die politische Grenzlinie bis 1916 zur Front; die benachbarten Militäranlagen gerieten schon in den ersten Kriegs-
tagen unter schwersten Beschuss. Die ca. 900 Dorfbewohner wurden ins böhmische Aussig evakuiert und konnten erst 1919 zurückkehren; das Dorf, das nach einem Großbrand 1911 gerade erst wiederaufgebaut worden war, wurde erneut völlig zerstört.

Das Buch beschreibt eindringlich die noch heute sichtbaren Relikte euro-
päischer (Kriegs)Geschichte; es verschweigt aber auch nicht, dass für Lusérn und die Lusérner die Erfahrungen mit einer repressiven Sprachen- und Kul-
turpolitik, die gleichfalls gemeinsames europäisches Erbe des zu Ende ge-
henden Jahrhunderts ist, noch gegenwärtig sind. An diese Auskünfte knüpft sich die Erwartung, dass in einer Europäischen Union erstmals ein nicht-
nationalistisches Interesse für diese vergessenen Kapitel der neueren Ge-
schichte zu wecken ist. Die Provinz Trient gewährt seit 1997 den deutsch-
sprachigen Minderheiten ähnliche Förderungen, wie sie auch für die ladinisch sprechenden Gebiete zugesagt wurden. Unterstützt wird neben Projekten in der Almwirtschaft und im Fremdenverkehr auch das ‘Zimbrische Kultur-
institut’ in Roana mit einem Zweigbüro in Lusérn. Seit 1996 schon besteht das “Dokumentationszentrum Lusérn”, das auch das vorliegende Buch heraus-
gegeben hat.

Es ist eine nicht unberechtigte Sorge des Verfassers und der Herausgeber, die verschiedentlich in der Publikation Ausdruck findet, dass die zimbrische Sprache in wenigen Jahren außer Gebrauch und mit ihr die Fabeln, Tradi-
tionen und Feste in Vergessenheit geraten könnten. Dann wäre das Zimbri-
sche eine weitere tote Sprache im Museum der Sprachgeschichte. Wichtigster Grund für derartige Befürchtungen: in den letzten Jahren haben viele Fa-
milien das Dorf verlassen und arbeiten auswärts, vor allem in Trient. Von den etwa 1.000 ‘Zimbern’ Lusérns leben heute noch etwa 340 im Ort, ca. 100 von ihnen sind während des Arbeitstags als sog. Auspendler abwesend. Nach Auskunft von Fiorenzo Nicolussi Castellan, dem Präsidenten des “Dokumen-
tationszentrum Lusérn”, gehen zur Zeit nur drei Kinder in den Kindergarten, sechs besuchen die Schule.

Von diesen gegenwärtigen Sorgen, von den möglichen Lehren aus der Ge-
schichte und den Plänen für eine europäische Zukunft berichtet das Buch. Es zeigt Bilder einer Landschaft, einer dörflichen Kultur und einer oftmals bedrückenden Geschichte, und es enthält zahlreiche Textbeispiele für ein deutsches Idiom aus der Zeit Walters von der Vogelweide. Zu hören ist das Zimbrische bis auf weiteres für jeden Besucher Lusérns.

Christian Prezzi: Die zimbrische Sprachinsel Lusérn. Einblick in die südlichste der deutschsprachigen Gemeinden. Übersetzt von Susanne Falkenberg. Zu beziehen über das Dokumentationszentrum Lusérn, Via Trento 6, I-38040 Luserna/Lusérn TN, 10.000 LIT (Am günstigsten durch Übersendung eines Euroschecks).

Gedruckt am 23. Oktober 1999 in der Gießener Allgemeinen
Seite erstellt am 19.Januar 2000

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